Was bisher geschah
Die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) enthielt in den Fassungen bis zum 31.12.2020 verbindliches Preisrecht. Es galten Mindest- und Höchstsätze für das Honorar. Honorarvereinbarungen waren nur wirksam möglich innerhalb des durch die Mindest- und Höchstsätze vorgegebenen Rahmens. Bei Unterschreitung der Mindestsätze und bei Überschreitung der Höchstsätze war die Honorarvereinbarung unwirksam. An die Stelle der unwirksamen Honorarvereinbarung trat dann das jeweilige Mindest- bzw. Höchstsatzhonorar.
Vor diesem Hintergrund bestand für den Architekten bzw. den Ingenieur grundsätzlich die Möglichkeit, von seinem Auftraggeber anstelle beispielsweise eines unterhalb des Mindestsatzes liegenden und somit nicht wirksam vereinbarten Pauschalhonorars das Mindestsatzhonorar bei Gericht einzuklagen (sogenannte „Aufstockungsklage“).
Am 12.12.2006 trat die EU-Dienstleistungsrichtlinie (Richtlinie 2006/123 EG) in Kraft, welche bestimmt, dass nationale Rechtsvorschriften, die die Beachtung von festgesetzten Mindest- und Höchstpreisen durch den Dienstleistungserbringer vorsehen, mit Blick auf die herrschende Dienstleistungsfreiheit grundsätzlich unzulässig sind. Die Mitgliedstaaten waren deswegen gehalten, ihre nationalen Vorschriften zu überprüfen und diese gegebenenfalls bis spätestens zum 28.12.2009 an die Vorgaben der EU-Dienstleistungsrichtlinie anzupassen.
Die Bundesrepublik Deutschland hatte daraufhin die verbindlichen Mindest- und Höchstsätze für bestimmte Leistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten. Mit dem Erlass der HOAI 2009 wurde vielmehr der Versuch unternommen, eine Unionsrechtswidrigkeit dadurch zu vermeiden, dass die HOAI nur noch Anwendung finden sollte auf Leistungen von Architekten und Ingenieuren, die ihren Sitz im Inland haben (sogenannte „Inländer-HOAI“).
2015 wurde von der EU-Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet und 2017 sodann Klage vor dem EuGH erhoben.
Durch Urteil vom 04.07.2019 (Rs. C-377/17) stellte der EuGH daraufhin fest, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der EU-Dienstleistungsrichtlinie verstößt, dass sie verbindliche Honorare für die Leistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat.
Der deutsche Gesetz- und Verordnungsgeber hat inzwischen auf das Urteil des EuGH reagiert und hat mit Wirkung zum 01.01.2021 eine neue HOAI in Kraft gesetzt, in der keine verbindlichen Mindest- und Höchstsätze mehr enthalten sind, sondern die Parteien vielmehr das Honorar für Architekten- und Ingenieurleistungen frei vereinbaren können. Lediglich dann, wenn die Parteien keine oder keine formwirksame Honorarvereinbarung treffen, gilt nach der HOAI 2021 der sogenannte Basishonorarsatz als vereinbart, welcher der Höhe nach dem früheren Mindestsatz der HOAI 2013 entspricht.
Bis zum Inkrafttreten der HOAI 2021 war unstreitig, dass die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedsstaat der EU und damit die öffentliche Hand unmittelbar an das Urteil des EuGH gebunden ist, d.h. die verbindlichen Mindest- und Höchstsätze der bis zum 31.12.2020 geltenden HOAI-Fassungen nicht mehr anwenden darf.
In Rechtsprechung und Schrifttum war demgegenüber höchst streitig, ob das Urteil des EuGH dazu führt, dass das verbindliche Preisrecht der HOAI in den bis zum 31.12.2020 geltenden Fassungen auch keine Wirkung mehr im Rechtsverhältnis zwischen Privatpersonen entfaltet. Insbesondere umstritten war, ob die deutschen Gerichte in einem zwischen Privatpersonen anhängigen Rechtsstreit bei „Altverträgen“ weiterhin gehalten sind, das verbindliche Preisrecht der HOAI anzuwenden.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte diese Frage in einem bei ihm im Rahmen eines Revisionsverfahrens gelandeten Fall einer Aufstockungsklage nicht selbst entschieden, sondern dem EuGH im Rahmen eines sogenannten Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt (Beschluss vom 14.05.2020 – VII ZR 174/19).
Das Urteil des EUGH
Über diese, ihm vom BGH vorgelegte Frage, hat der EuGH nun durch Urteil vom 18.01.2022 (Rs. C-261/20) entschieden. Danach dürfen die deutschen Gerichte die in den HOAI-Fassungen bis zum 31.12.2020 enthaltenen Mindest- und Höchstsätze auf Rechtsverhältnisse zwischen Privatpersonen weiter anwenden.
Diese Entscheidung des EuGH ist für die „Fachwelt“ überraschend, weil der Generalanwalt beim EuGH am 14.07.2021 in seinen Schlussanträgen dafür plädiert hatte, die HOAI-Mindest- und Höchstsätze (auch) zwischen Privaten nicht mehr anzuwenden und diesen Schlussanträgen eine starke Indizwirkung beigemessen wurde, da der EuGH in der Regel den Schlussanträgen des Generalanwalts folgt.
Der EuGH begründet seine Entscheidung damit, dass Adressaten der EU-Dienstleistungsrichtlinie nur die Mitgliedsstaaten seien, es sich bei der EU-Dienstleistungsrichtlinie also quasi um eine Anweisung an den Mitgliedsstaat handle, der das nationale Recht entsprechend anzupassen habe. Für die einzelnen Bürger der Mitgliedsstaaten begründe die EU-Dienstleistungsrichtlinie demgegenüber keine Verpflichtungen. Deswegen seien die deutschen Gerichte allein aufgrund des Unionsrechts nicht dazu verpflichtet, in einem dort anhängigen Rechtsstreit zwischen Privatpersonen, die HOAI-Regelungen über die verbindlichen Mindest- und Höchst-sätze unangewendet zu lassen. Nichts anderes folge aus dem Urteil, mit dem die Vertragsverletzung festgestellt wurde, weil dieses in einem Vertragsverletzungsverfahren zwischen der EU-Kommission und der Bundesrepublik Deutschland ergangen ist und dem Einzelnen keine Rechte verleihe. Allerdings könnten die nationalen Gerichte die Anwendung einer Bestimmung des nationalen Rechts, die gegen eine Bestimmung des Unionsrechts ohne unmittelbare Wirkung verstößt, aufgrund des innerstaatlichen Rechts ausschließen. Die durch die fehlende Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie geschädigte Prozesspartei könne von der Bundesrepublik Deutschland den Ersatz ihres dadurch verursachten Schadens verlangen.